SPIEGEL: „Das Stereotyp ‚Zigeuner‘ trifft uns alle“
Im Rahmen des Projektes „Globale Gesellschaft“ berichtet DER SPIEGEL über über Ungerechtigkeiten in einer globalisierten Welt, gesellschaftspolitische Herausforderungen und nachhaltige Entwicklung.
In diesem Rahmen ist eine Porträtserie junger Sinti*zze und Rom*nja zu ihren persönlichen Erfahrungen mit Antiziganismus entstanden. Auch ich wurde hierfür von Heike Klovert interviewt.
Der vollständige Artikel kann unter folgendem Link abgerufen werden:
https://www.spiegel.de/lebenundlernen/job/sinti-und-roma-das-stereotyp-zigeuner-trifft-uns-alle-a-1296741.html#
„Dass ich Sinto bin, habe ich als Kind und Jugendlicher lieber für mich behalten. Das hat auch damit zu tun, dass meine Familie in der NS-Zeit verfolgt wurde. Mein Großvater hatte große Angst, so etwas könne wieder passieren. Deswegen haben wir unsere Kultur nicht offen nach außen gelebt und zu Hause auch nur Deutsch gesprochen und nicht Romanes.
Meine Familie hat extrem unter den Nazis gelitten. Meine Uroma war eine Sinteza. Sie hatte viele Geschwister, deren Familien deportiert wurden. Nur wenige kehrten zurück, die anderen wurden ermordet. Über die Verfolgung der Sinti und Roma in der NS-Zeit wird viel zu wenig gesprochen, finde ich. Sie ist bis heute kaum mehr als eine Fußnote in den Geschichtsbüchern.
Weil meine Uroma mit einem Schausteller verheiratet war, der kein Sinto war, hatten die Nazis sie zunächst nicht für die Deportation vorgesehen. Meine Uroma vermutet, dass ihr der Ortsvorsteher wohlgesonnen war und ihre Herkunft in ihrer Akte verschwieg. Später sollte sie deportiert und ihre Kinder sterilisiert werden. Doch auch dazu kam es nicht. Sie hatten Glück.
In der Schule ahnte niemand etwas
Die Geschichten über diese Zeit waren einer der Gründe, warum wir unsere Herkunft verheimlichten. Viele Sinti sind bis heute sehr misstrauisch gegenüber staatlichen Institutionen wie Ämtern, Schulen und Krankenhäusern. Einige haben auch Angst davor, mit Roma, die seit den Neunzigerjahren aus Osteuropa zugewandert sind und ebenfalls starken Vorbehalten ausgesetzt sind, in einen Topf geworfen zu werden. Etwa die Hälfte der Sinti in meinem Verwandten- und Bekanntenkreis outet sich deshalb nicht.
In der Schule ahnte niemand, dass ich ein Sinto bin. Wie viele deutsche Sinti habe ich helle Haut und hellbraune Haare und falle in Hanau, wo ich geboren bin, äußerlich nicht weiter auf.
Nach meinem Abitur besuchte ich dann ein Bildungstreffen, das der Zentralrat der Deutschen Sinti und Roma organisiert hatte. Dort lernte ich andere junge Sinti kennen, die schon immer offen mit ihrer Herkunft umgegangen sind. Ich fragte mich: Warum soll ich dann ein Geheimnis daraus machen?
Manche rissen Zigeunerwitze
Als ich mich bei Freunden und Bekannten als Sinto geoutet habe, waren die Reaktionen sehr verschieden. Manche sagten: „Das kann nicht sein, du siehst ja gar nicht aus wie einer.“ Andere nahmen die Information einfach still zur Kenntnis. Und wieder andere rissen Zigeunerwitze.
Am Anfang hörte ich häufig Sätze, die wohl lustig gemeint sein sollten. Da sagte etwa jemand „Ihr Zigeuner, ihr seid ja so dreckig“, als ich mir einmal auf die Hose gekleckert hatte. Der Begriff „Zigeuner“ wird in unserer Gesellschaft oft unbedacht verwendet. Manchen Freunden rutschten Sprüche raus wie „Ach guck mal, die Zigeuner da“, wenn sie über Menschen sprechen, die auf sie arm oder wenig vertrauenswürdig wirken. Danach schoben sie schnell hinterher: „Ups, das war nicht so gemeint“.
Eine Handvoll Freundschaften habe ich bewusst einschlafen lassen, weil ich gemerkt habe: Es tut mir nicht gut, wenn ich mich mit Menschen umgebe, die mir Vorbehalte überstülpen. Viele wissen einfach zu wenig über die Sinti. Wir leben seit Jahrhunderten in diesem Land. Trotzdem wurde ich bereits dafür gelobt, dass ich so gut Deutsch spreche.
Hasskommentare bei Facebook
Im Studium betreute ich anderthalb Jahre lang im Auftrag des Jugendamts ein Wohnviertel, in dem viele Roma lebten. Die örtliche Tageszeitung berichtete darüber und ich schrieb einen Gastbeitrag, der über Sinti und Roma aufklären sollte.
Danach liefen drei Tage lang Hasskommentare bei Facebook und auf der Website der Zeitung ein: „Die Roma rauben andere Menschen aus und lassen ihre Kinder auf die Gräber des Friedhofs koten. Sie sind Sozialschmarotzer und Asyltouristen.“ Die starken Klischees haben auch mit der Berichterstattung zu tun. Es wird in den Medien viel zu oft negativ über Roma und Sinti berichtet.
Wir kommen zwar aus unterschiedlichen Ländern und sind unterschiedlich aufgewachsen. Doch ich denke, wir müssen in der Minderheit alle füreinander einstehen. Wir finden eher politisches Gehör, wenn wir gemeinsam sprechen. Und das Stereotyp „Zigeuner“ trifft uns alle gleichermaßen.
Seit sechs Jahren halte ich deshalb freiberuflich Workshops und Vorträge zu Antiziganismus und engagiere mich in Vereinen, die Sinti und Roma stärken und den Rest der Gesellschaft für Vorurteile sensibilisieren wollen.“
DER SPIEGEL, 26.12.2019